Medizinisches Fachwissen trifft gesellschaftliche Verantwortung: Im Rahmen der Ringvorlesung Rettungswissenschaften an der HSD Hochschule Döpfer standen im Mai zwei Themen im Fokus, die den Rettungsdienst auf unterschiedliche Weise fordern – fachlich wie strukturell. Angela Gerhard präsentierte Forschungsergebnisse zur EKG-Interpretationskompetenz im Rettungsdienst und Jonathan Raschke untersuchte das Ausmaß sexueller Belästigung durch Kolleg*innen und Vorgesetzte.
In der Mai-Ausgabe der rettungswissenschaftlichen Ringvorlesung „Wissen rettet Leben“ stand eine virtuelle Doppelveranstaltung auf dem Programm, in der zwei Themen verhandelt wurden, die für die Weiterentwicklung der Notfallversorgung gleichermaßen relevant sind – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.
Angela Gerhard (M.A. Medizinpädagogik) eröffnete die Veranstaltung mit einem Vortrag zur EKG-Beurteilung im deutschen Rettungs- und Notarztdienst. Grundlage war eine deutschlandweite quantitative Studie, in der die Fähigkeit von Notfallsanitäter*innen und Notärzt*innen zur Einschätzung von EKG-Befunden untersucht wurde. Dabei sollten neun praxisrelevante EKG-Muster – im Format von Single-Choice-Fragen – interpretiert werden, darunter Vorhofflimmern, AV-Blöcke oder Schenkelblockbilder.
Die Ergebnisse verdeutlichen Kompetenzunterschiede zwischen den Berufsgruppen. So lag die durchschnittliche Trefferquote bei 63 Prozent. Notärzt*innen schnitten im Mittel besser ab als Notfallsanitäter*innen. Auch bestimmte EKG-Typen erwiesen sich als besonders fehleranfällig. Gerhard betonte: „Die unter Notfallsanitäterinnen (NFS) und Notärztinnen (NA) durchgeführte Befragung zur EKG-Interpretation zeigte Defizite.“ Die Referentin spricht sich für ein systematischeres Fortbildungsangebot aus, das auf Ist-Analysen basiert und durch regelmäßige Trainings mit Rückmeldung ergänzt wird.
Im Anschluss beleuchtete Jonathan Raschke in seinem Vortrag „Sexuelle Belästigung im Rettungsdienst – (K)ein Problem?“ ein Thema, das bislang wenig öffentlich diskutiert wird. Auf Basis einer groß angelegten Onlinebefragung unter 1.000 Rettungskräften untersuchte er, wie verbreitet sexuelle Belästigung im Berufsalltag ist – und welche Folgen sie für die Betroffenen hat.
Die Ergebnisse sind deutlich: Im Vergleich zur restlichen Arbeitswelt sind insbesondere Frauen im Rettungsdienst überproportional häufig von sexueller Belästigung betroffen. Fast die Hälfte der Teilnehmenden bewertete den Umgang der eigenen Arbeitgeber*innen mit dem Thema als mittelmäßig oder schlechter. Raschke wies zudem darauf hin, dass sexuelle Belästigung zwar nur einen kleinen Effekt auf die generelle Berufstreue habe, jedoch einen moderaten Einfluss auf den Wunsch, den Arbeitgeber oder sogar den Beruf zu wechseln.
Im Fazit plädierte Raschke für klare Maßnahmen: Die Einführung verbindlicher Antibelästigungsrichtlinien, sichere Beschwerdewege und die konsequente Umsetzung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes seien entscheidend, um ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen. Darüber hinaus sei eine geschlechterparitätische Besetzung insbesondere in Führungspositionen dringend erforderlich.
Beide Vorträge zeigten, dass Qualität im Rettungsdienst mehrdimensional gedacht werden muss: Sowohl fachliche Kompetenzen als auch strukturelle Rahmenbedingungen spielen eine zentrale Rolle – für die Versorgung ebenso wie für die Menschen, die darin arbeiten.
Die nächste Veranstaltung der Ringvorlesung Rettungswissenschaften findet am 25. Juni 2025 von 15:30 bis 17:00 Uhr virtuell statt. Dr. Stefan Schmerbeck widmet sich dem Thema „Telenotarzt – Wer will ihn eigentlich?“.